Ziel der im Folgenden beschriebenen Interviews war es, die spezifischen, individuellen Sichtweisen von Studierenden auf die vergangenen Semester einzufangen, um diese mit den Erfahrungen anderer Studierender (siehe Kommentar-Studie) und auch meinen eigenen Erlebnissen und Gedanken abgleichen zu können. Der resultierende Bericht ist eine recht spezifische Erzählung von Informatik-Studierenden an der TU Wien, kann aber in einigen Punkte auf andere Fakultäten und Universitäten umgelegt werden, wie der Vergleich mit der Kommentar-Studie zeigt. Der Text kann als Gedankenanstoß verstanden werden, um die eigene Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die bisher vielleicht nicht so wahrgenommen wurden.
Im Februar und März 2021 habe ich dazu Gespräche mit drei Informatik-Studierenden der TU Wien geführt. Die Interviews wurden transkribiert, anonymisiert (im Folgenden referenziere ich die Studierenden als A, B, und C) und mittels qcamap.org codiert. Die resultierten Codes wurden händisch auf Notizzettel übertragen, und manuell unter Mitwirkung einer dem Projekt nicht zugehörigen Person geordnet.
~ Entgrenzung von Arbeit, Freizeit, Uni
Ein Thema, das durch die Pandemie für viele aufgekommen ist, aber auch vorher schon Menschen beschäftigt hat, die in ihrer Arbeit auf “remote office” umgestiegen sind, ist das Verschwimmen von Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit. Siehe dazu z.B. auch dieser kürzlich erschienene Bericht auf ORF.at zur “ständigen Erreichbarkeit”. Einerseits gibt distance learning, abhängig von den gewählten Lehrveranstaltungen und ihren Organisationsformen, den Studierenden mehr Freiheiten, ihre Zeit selbst einzuteilen. Damit wird das Studium weniger schulisch, es fühlt sich mehr nach “richtiger Uni” an. Gleichzeitig berichteten meine Interviewpartner_innen davon, dass sie Schwierigkeiten hatten, am Ende des Tages/der Woche einen Strich zu ziehen, und vom “Uni-Modus” auf Freizeit umzuschalten. “Man sitzt eh daheim, und hat sonst nix zu tun, also macht man halt weiter”. Neben diesem leichten inneren Druck wird auch von Lehrenden Druck gemacht – manche sollen aufgrund der Lockdown-ähnlichen Situationen davon ausgegangen sein, dass Studierende nun ja “eh nichts anderes zu tun hätten”, als Vorlesungen anzuschauen und es deshalb nicht notwendig wäre z.B. Vorlesungen aufzuzeichnen und für mehrmaliges oder späteres Ansehen verfügbar zu machen. Solche Ansichten und Aussagen ignorieren natürlich, dass Studierende auch andere Rollen haben, als die der Lernenden – und z.B. auch Kinder im schulpflichtigen Alter haben können, deren Betreuung und Beaufsichtigung aufgrund der Pandemie (immer wieder) neu zu organisieren sind.
Im Zusammenhang mit diesem Thema ist es für Studierende wichtig, Hilfestellungen zu erhalten. Hinweise und Tips, wie der Tagesablauf gut gestaltet werden kann, welche Möglichkeiten zum gemeinsamen Arbeiten und Lernen es gibt, und natürlich auch Rücksichtnahme auf geänderte Umstände sind nur einige Optionen. Gleichzeitig ist es wichtig, eine gewisse Planungssicherheit zu haben: mein_e Interviewpartner_in C hat sich dazu entschieden, wegen des organisatorischen Zusatzaufwandes während des 2020W ein Semester lang zu pausieren, in der Hoffnung darauf, dass im 2021W alles etwas geordneter abläuft.
~ Fehlgeschlagene Digitalisierung
Weil auf den Universitäten die Digitalisierung in den letzten Jahren nur schleppend voran gegangen ist, und die Umstellungen auf distance learning im 2021S sehr abrupt, und im 2021W (aus Sicht der Studierenden) eher widerwillig passiert sind, haben viele Lehrende ihre Lehrveranstaltungen und ihre Prüfungen 1:1 von “offline” auf “online” umgestellt. Aus einer Vorlesung wurde also eine Online-Vorlesung – oftmals ohne Aufzeichnung. Aus einer Vorlesung mit Anwesenheitspflicht wurde eine Online-Vorlesung mit Anwesenheitspflicht. Auch hier – oft ohne Aufzeichnung (weil die Studierenden ja “da” sind), dafür mit dem Verlangen nach ständiger Verfügbarkeit für Interaktionen, und im Idealfall auch noch mit angeschaltener Kamera. Was in einem Hörsaal für Studierende vielleicht noch machbar(er) war, gestaltet sich zuhause extrem schwierig: der Fokus driftet extrem leicht ab, wenn man regelrecht dazu gezwungen wird, 2 Stunden lang einen Frontalvortrag am Laptop zu verfolgen, bei dem das Tempo nicht angepasst werden kann, bei Unklarheiten nicht pausiert bzw. zurück gespult werden kann. Manche Vortragenden nehmen Fragen nur schriftlich und damit stark zeitversetzt an, so dass sie wegen des fehlenden Kontextes nicht mehr beantwortet werden können.
In der Hoffnung, zumindest ihre Prüfungen in altbewährten Modi abhalten zu können, hatten im 2020S und 2021W viele Lehrende erst gar keine Online-Konzepte für ihre Prüfungen erarbeitet. Das maßt vor allem dann seltsam an, wenn der “übliche Modus” ein Multiple Choice-Test ist, der in Präsenz auf Papier abgehalten – und automatisiert ausgewertet wurde (so geschehen im 2020S laut Interviewpartner_in B).
Interviewpartner_in B berichtet außerdem, dass mehrfach auf Prüfungen gelernt werden musste, weil Prüfungstermine kurzfristig verschoben wurden. Insgesamt hat sich deshalb ein guter Teil der Prüfungen von Interviewpartner_innen A und B von Mitte/Ende Jänner 2021 weg verschoben – teils bis in die letzte Februarwoche, sodass es für sie de facto keine Semesterferien zwischen 2020W und 2021S gab.
~ Fokus auf Schummelvermeidung statt Lernerfolgsfeststellung
A propos Prüfungen: das Thema der Schummelvermeidung wurde in allen drei Interviews mehr oder weniger ausführlich diskutiert. Der Fokus vieler Lehrender bzw. Prüfender scheint nicht darauf zu liegen, den tatsächlichen Lernfortschritt der Studierenden zu erfassen – sondern darauf, zu vermeiden, dass geschummelt wird. Es werden komplexe Setups ausgetüftelt (siehe z.B. diverse Online-Prüfungsleitfäden [Leitfaden 1, PDF][Leitfaden 2, PDF][TU-weiter Leitfaden, Snapshot in archive.org]), um sicher zu gehen, dass keine unerlaubten Hilfsmittel verwendet werden. Die Schummelvermeidung beinhaltet oft sogar die dauerhafte Video-Überwachung des Raumes, in dem die Prüfung geschrieben wird – ohne Rücksicht darauf, dass es sich bei diesem Raum in vielen Fällen nicht nur um ein Arbeitszimmer, sondern auch um Ess-, Fitness-, Schlaf- und Wohnraum handelt. Das stellt einen Eingriff in die Privatsphäre der Studierenden dar, der auch klar als solcher wahrgenommen wird. Einige Prüfende sind sich der Problematik des Eingriffs wohl bewusst, und holen von den Prüflingen Zustimmungserklärungen zur Aufnahme und Verarbeitung der Überwachung ein – ignorieren dabei aber völlig, dass beide Parteien sich in einem Macht-Ungleichgewicht bewegen, das eine tatsächliche Einverständniserklärung (informed consent) unmöglich macht: für Studierende steht bei Ablehnung der Überwachung während der Prüfung die Befürchtung im Raum, sich Probleme einzuhandeln. Somit werden sie, um des Studienfortschritts Willen, regelrecht dazu gezwungen, einzustimmen.
Darüber hinaus werden die Studierenden unter Generalverdacht gestellt, es wird unterstellt sie würden Prüfungen nur der ECTS Willen, ein Studium nur wegen des Titels, aber beides keinesfalls aus Interesse, betreiben. Den Studierenden gegenüber scheint es, als würde mehr Energie in übergriffige Schummelvermeidung gesteckt, als in qualitative Lehre, angemessene Prüfungen und gutes Feedback auf erbrachte Leistungen.
Natürlich gibt es auch Beispiele von Lehrenden, die ihre Lehr- und Prüfungsmodi so umgestellt haben, dass alle Seiten spannende und gute Erfahrungen sammeln konnten. Meine Interviewpartner_innen berichteten positiv über Umstellungen auf mündliche Prüfungen (wobei auch Nachteile schriftlichen gegenüber besprochen wurden) und Tests via TUWEL (der TU Wien E-Learning Plattform), die als open book Prüfungen konzipiert waren – wo also allein durch die Fragestellungen ein “ergoogeln” der Antworten/Lösungen vermieden, und dadurch die Überwachung der Studierenden unnötig wurde.
~ Unklarheiten, Unsicherheiten, Kommunikationsprobleme
Wie zuvor schon angemerkt, ist Planungssicherheit ein wichtiger Thema für Studierende, auch wenn sie während der Pandemie vermeintlich “eh nichts anderes zu tun haben”. Zwar sind Freizeitoptionen stark eingeschränkt, viele Studierende gehen aber weiterhin einer Lohnarbeit nach – oder haben, weil sie diese Arbeit pandemiebedingt verloren haben, finanzielle Sorgen. Ebenfalls sind nicht wenige Studierende Eltern, oder haben andere Sorgeverpflichtungen. Kurz, es gibt ein Leben neben dem Studium, auch in der Pandemie. Und wenn zu lange unklar ist, wie genau ein Übungsmodus funktionieren wird, wann die Beschreibungen für Aufgaben veröffentlicht werden, oder wenn auf Fragen zum genauen Prüfungsablauf nur nach einiger Zeit bzw. sehr kurzfristig vor dem Prüfungstermin geantwortet wird, verursacht das weiteren Stress.
Meinen Interviewpartner_innen und mir ist natürlich klar, dass Lehrende ebenfalls ein Leben neben der Lehre haben. Wir gehen auch nicht davon aus, dass eine lange Funkstille mit plötzlichem Nachreichen von mehreren Übungsblättern beabsichtigt oder böswillig passiert sind. In diesem Sinne ein Appell an die Lehrenden, aber auch die Rektorate und andere Entscheidungsträger_innen: Wenn die Entwicklung der Situation unklar ist, sollte mit der Fortführung von distance learning geplant werden. Es hilft niemandem, wenn mitten unter dem Semester angekündigt wird, dass womöglich in 6-8 Wochen Änderungen passieren werden. Und es wird wohl kaum möglich sein, im Juni oder Juli schon zu wissen, wie der Herbst sich gestaltet – ausreichend vor Semesterbeginn sollte trotzdem eine Entscheidung fallen. Unterkünfte und Jobs bzw. Abnehmer_innen dafür finden sich selten von heute auf morgen.
~ Neue Methoden ausprobieren
Die positive Kehrseite zum Veränderungsunwillen mancher ist das Innovationsvermögen anderer. Es wurde von meinen Interviewpartner_innen lobend erwähnt, dass manche Lehrende sich sichtlich bemüht hatten, passende distance learning-Formate zu finden oder zu entwickeln, und auf (kritische) Rückmeldungen konstruktiv eingegangen wurde.
Meine Interviewpartner_innen berichteten von guten Erfahrungen bzw. formulierten Hoffnungen, Uotpien und Wünsche zu mehr oder weniger neuen Methoden und Formaten: von freiwilligen Gruppenübungen, in denen Gelerntes nicht nur verfestigt, sondern auch vertieft wird; von dezidierten Fragestunden, in denen teils gemeinsam Wissen erarbeitet wird; von VU-Modi, die keine knock-out-Kritierien inkludieren (VUs/Vorlesungen mit Übungsanteil sind an der TU sehr ungeregelt und an der Informatik weit verbreitet); von Alternativen zu Anwesenheitspflichten in VUs; von der Möglichkeit, aus verschiedenen Prüfungsmodi zu wählen (schriftlich oder alternativ mündlich).
~ Vielzahl an LVA- und Prüfungs-Modi, Plattformen, …
Meine Interviewpartner_innen berichteten, dass – zusätzlich zu den Unsicherheiten bezüglich der Präsenz-Abhaltungen und allgemeinen Kommunikationsproblemen – auch die Menge an verschiedenen Abhaltungsformen, Prüfungsmodalitäten, und verwendeten Plattformen zu Unübersichtlichkeit und damit Unsicherheit und Stress führt. Die TU Wien bietet mit TUWEL, TISS (zentrales Informationssystem der TU Wien), einer rocket.chat Instanz und lizenzierten zoom-Accounts an sich ausreichend Plattformen, um eine Vielzahl von Lehrveranstaltungsformen zu ermöglichen. Trotzdem finden sich LVA-Informationen – manchmal sogar Übungsangaben – häufig nicht in diesen Systemen, sondern auf eigenen Instituts-, Personen- oder LVA-Websiten, oder auf mehrere Systeme verteilt. In manchen Fällen wurden in TUWEL und TISS sogar widersprüchliche Informationen veröffentlicht.
Meine Interviewpartner_innen erhoffen sich, dass Lehrende und Prüfende (also inklusive Prüfungsaufsichtspersonal wie z.B. Tutor_innen) künftig besser, fokussierter kommunizieren und Modi und Methoden nutzen, mit denen sich alle Beteiligten gut auskennen bzw. für die gute Dokumentation vorhanden ist. Es sollte früh klar sein, wie welche Teile der Leistungsfeststellung funktionieren sollen.
~ Konklusion
Aus den Interviews und meinen eigenen Erfahrungen lässt sich insgesamt wohl ableiten, dass Studierende als das wahrgenommen werden möchten, was sie sind: Menschen, deren Leben aus mehr besteht als “nur” ihrem Studium. Es muss klar sein, dass das Leben “außerhalb” des Studiums unsere Arbeits-, Lern- und Leistungsfähigkeit beeinflusst. Dass, nur weil wir jetzt “eh alle immer zuhause sind”, nicht gleichbedeutend ist damit, dass wir 24/7 verfügbar und einsatzbereit wären. Es muss Verständnis dafür geben, dass zu viele Änderungen in zu kurzer Zeit, auch wenn sie noch so gut gemeint sind, zu Stress und Unsicherheiten führen. Es muss auch klar sein, dass dieses Semester und wohl auch das nächste Semester nicht wieder so sein werden “wie früher” – für uns als Studierenden, aber auch für die Lehrenden. Dafür muss es Verständnis und Entgegenkommen geben – auch von Rektor_innen und weiteren Entscheidungsträger_innen. Schlussendlich müssen wir uns darüber klar werden, ob wir eigentlich genau diese “Normalität” wieder haben wollen, die zuvor schon zu vielen Ausschlüssen geführt hat, oder welche Änderungen wir beibehalten möchten. In diesem Sinne ist es auch notwendig, einen wohlwollenden Austausch zwischen Studierenden und Lehrenden anzuregen, in dem (kritisches) Feedback geäußert – und angenommen werden kann.